Neue Rundschau » „La Morgue“ heißt das berühmte Leichenschauhaus in Paris. (2024)

Ein ersoffener Bierfahrer wurde auf den
Tisch gestemmt.

Irgendeiner hatte ihm eine dunkelhellila Aster
zwischen die Zähne geklemmt.

Als ich von der Brust aus
unter der Haut mit einem langen Messer
Zunge und Gaumen herausschnitt
muss ich sie angestoßen haben,
denn sie glitt
in das nebenliegende Gehirn.

Es ist ein bedenkenswertes Phänomen, dass über den Häuptern dieser Dichter – die alle antimilitaristisch und pazifistisch eingestellt waren – die immer eindringlichere Vorahnung von Krieg, Grauen, Angst und schicksalhafter Verzweiflung schwebte. Dabei war das Leben um sie herum voll des üppigsten Reichtums, und die Welt lag für ganz Deutschland offen.

Es ist ein Weinen in der Welt,
als ob der liebe Gott gestorben wär’.

dichtete Else Lasker-Schüler.

Wir Zwanzigjährigen ahnten damals den Beginn einer neuen Lebensvision: in der das Ich seine Mauern sprengt, die Monade die Fenster in die Welt aufreißt und Gemeinschaft hat mit der Magie der Kräfte und Stimmen der ganzen Welt.

Und das Erscheinen von „Morgue“ fiel gerade in die Zeit solcher Untergangs-Visionen und Aufbruchstimmung.
Verse wie die von Gottfried Benn hatte man zuletzt ein halbes Jahrhundert zuvor lesen können. In seinem Gedichtzyklus „Die Blumen des Bösen“ beschwört Charles Baudelaire eine Stimmung des Seltsamen, Unheimlichen, Verruchten. Seine Gedichte sind voll von Schaudern über Alter, Krankheit, Verfall und voll von neuen Ausdrucksmöglichkeiten. Baudelaire schwelgt geradezu in Bizarrem, Abnormem und setzt dabei auf Unerwartetes, auf Schock.

In einem Zimmer, wo wie unterm Treibhausglase
Die Luft schwül und gefährlich steht,
Wo aus den Sträußen, die vergehn im Sarg der Vase,
Der letzte Seufzer lau verweht.

Läßt eine Leiche ohne Kopf rot niederrinnen
Aufs Kissen, darin sie versinkt,
Eine lebendige Blutlache, die das Linnen
Begierig wie ein Rasen trinkt.

Gleich den Visionen, die erstehn in Schattennächten,
Auf die das Auge starrt voll Pein,
Sieht man, mit seiner Last von schweren, schwarzen Flechten
Und von kostbarem Schmuckgestein,

Den Kopf ranunkelgleich hier auf dem Nachttisch liegen,
Und schräg kommt und gedankenleer
Ein Blick so vag und weiß wie dämmerungsentstiegen
Aus den verdrehten Augen her.

Nackt auf dem Bette, ohne Skrupel, spreiten
Der Rumpf, die Glieder ihre Pracht,
Die herrlichen, verhängnisvollen Heimlichkeiten,
Womit sie die Natur bedacht.

Von „Dämmerungsentstiegenheit“ ist bei Gottfried Benn nichts mehr zu spüren:

Dann lag auf Kissen dunklen Bluts gebettet
der blonde Nacken einer weißen Frau.
Die Sonne wütete in ihrem Haar
und leckte ihr die hellen Schenkel lang
und kniete um die bräunlicheren Brüste,
noch unentstellt durch Laster und Geburt.

[ … ]

Sie aber lag und schlief wie eine Braut:
Am Saume ihres Glücks der ersten Liebe
und wie vorm Aufbruch vieler Himmelfahrten
des jungen warmen Blutes.
Bis man ihr
das Messer in die weiße Kehle senkte
und einen Pupurschurz aus totem Blut
ihr um die Hüften warf.

Gottfried Benn bekam keinen Prozess wegen Verletzung der öffentlichen Moral wie noch Baudelaire – aber Verrisse noch und noch. Denn nie zuvor ist eine Mädchenleiche bedichtet worden, die lange im Schilf gelegen war: „Schöne Jugend“.

Als man die Brust aufbrach, war die Speiseröhre so löchrig.
Schließlich in einer Laube unter dem Zwerchfell
fand man ein Nest von jungen Ratten.
Ein kleines Schwesterchen lag tot.
Die andern lebten von Leber und Niere,
tranken das kalte Blut und hatten
hier eine schöne Jugend verlebt.
Und schön und schnell kam auch ihr Tod:
Man warf sie allesamt ins Wasser.
Ach, wie die kleinen Schnauzen quietschten!

In Deutschland hat die Presse noch nie in so expressiver, explodierender Weise auf Lyrik reagiert wie bei Benn. Pervers und zynisch seien diese Gedichte, erfüllt von „wildem Ekel und geilem Grauen“. Richard M. Meyer nennt Benn in seiner Literaturgeschichte einen „Höllenbreughel“.
Die Augsburger Abendzeitung zeterte los:

Pfui Teufel! Welch eine zügellose, von jeglicher Herrschaft geistiger Sauberkeit bare Phantasie entblößt sich da; welche abstoßende Lust am abgründig Häßlichen, welches hämische Vergnügen, Dinge, die nun einmal nicht zu ändern sind, ans Licht zu ziehen … Eine Zuchtlosigkeit des Geschmackes, wie sie kaum von den bekannten Scheußlichkeiten der Schwarzen Messen und den Pariser Montmartre-Tollheiten überboten worden ist.

Selbst der dem Modernen durchaus zugewandte Verleger und Journalist Hans von Weber aus München stöhnte in seiner Zeitschrift „Der Zwiebelfisch“:

Wer sie aber lesen will, diese – – – Gedichte, der stelle sich einen sehr steifen Grog zurecht. Ein sehr steifen!

Der Münchner „Janus“ brauchte nicht lange zu überlegen, welche Gesichtshälfte er zeigen wollte:

Wenn früher jemand verrückt war, so sah er nur weiße Mäuse tanzen. Jungberlin hat hierin entschieden einen Fortschritt gemacht, es sieht Ratten. Über die Perversität dieser Gedichte zu schreiben, ist als Lyrikkritiker nicht meine Sache. Ich überlasse diesen interessanten Fall den Psychiatern.

Allerdings vereinzelt, wie die Berliner „Post“, war man da ganz anderer Meinung:

Endlich hat sich der Poet gefunden, der unsere Zukunft heraushebt aus der Nichtigkeit und uns wieder hohe Ziele weist: Goethe muss nun seinen Platz verlassen auf dem Olymp; ein anderer wird ihn einnehmen, und dieser andere heißt Gottfried Benn… Wir dürfen uns glücklich preisen, dem Zeitalter anzugehören, in dem uns ein solcher Dichter lebt.

Und Gottfried Benn?

Noch bis zum März 1912 wußte niemand von ihm. Bis auf wenige seiner Freunde. So auch Adolf Petrenz, der Redakteur, der mir ein wirres Manuskript zugehen ließ, dessen Lektüre mich mißmutig machte und schon zu hastigerem Weiterblättern und Zuklappen veranlassen wollte, bis ich dann zu einem angehängten Zyklus, der mit den bisherigen Versen schier unvereinbar schien, gelangte – und aufschrie. Der das geschrieben hatte, kam nicht von der Theorie, sondern aus den Erlebnissen des ärztlichen Berufes. [ … ] Das Flugblatt war in acht Tagen abgesetzt und gedruckt.

Erinnert sich der Ein-Mann-Verleger Alfred Richard Meyer. Meyer gab seit 1906 die heute legendären „Lyrischen Flugblätter“ im Berliner Vorort Wilmersdorf heraus. Auf über 100 Titel brachte es diese berühmte Reihe expressionistischer Lyrik, einige der schmalen Hefte waren mit Originalgrafiken etwa von Ernst Ludwig Kirchner oder Ludwig Meidner versehen. Die Auflage betrug nur 500 Exemplare. Die Originaldrucke nicht nur von Gottfried Benn – Meyer hat Benn auch später noch mehrfach verlegt – sind heute selten und gesucht.

Doch Benn wollte sich über die große Resonanz nicht so recht freuen, auch wenn er es später verklärend dargestellt hat. In einem erst vor einigen Jahren aufgetauchten Brief äußert er zwar keine Bedenken, dass „ein paar Spießer, Familienväter, Oberfeldärzte und ähnliche Kanaken aus ihrer Ruhe gestört“ werden. Aber er ärgerte sich, ja bereute sogar die Veröffentlichung, fühlte sich durch den Verleger „schamlos ausgenutzt“, denn dieser Zusammenstellung hätte er nie zugestimmt. Ihm roch das alles zu sehr „nach Sensation“, schmeckte zu sehr „nach Kino“.

Die neue Kultur des „Bürgerschreckens“ brach sich dann 1914 mit Walter Hasenclevers Stück „Der Sohn“ auf der Bühne durch und verschärfte sich nur wenige Jahre darauf mit Arnolt Bronnens „Vatermord“ sogar noch.

Und Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Surrealismus – heute klassische Gattungen des künstlerischen Ausdrucks – suchten noch ihren Weg.

Benn suchte den Rosenduft und den Frühling, bei dem ihm dauernd die entsetzliche Abgenutztheit der Ausdrucksmittel in den Worten zum Bewußtsein kam, durch Karbol, Chloroform und Leichenschauhaus, zu ersetzen. Die Begriffe von dort waren wenigsten noch sauber und blank, aus der Welt der Wissenschaft heraus waren noch nicht Tausende und aber Tausende von Versen entstanden. Was Döblin von der Physik und der Technik her im Roman versuchte, die Romantisierung der exakten Naturwissenschaft, das versuchte Benn von der Medizin aus. Was entstand, war lange vor Dix eine neue Sachlichkeit der Lyrik, die bisher kaum überboten worden ist. Dahinter steht ein Mensch von durchaus dichterischem Instinkt, den eigentlich gerade der Wille zur inneren seelischen Wirklichkeit zu dieser unseelischen äußeren gezwungen hat.

So der Literarhistoriker Paul Fechter.

Hier diese Reihe sind zerfressene Schöße
und diese Reihe ist zerfallene Brust.
Bett stinkt bei Bett. Die Schwestern wechseln stündlich.

Komm, hebe ruhig diese Decke auf.
Sieh: dieser Klumpen Fett und faule Säfte
das war einst irgendeinem Manne groß
und hieß auch Rausch und Heimat. –

Komm, sieh auf diese Narben an der Brust.
Fühlst du den Rosenkranz von weichen Knoten?
Fühl ruhig hin. Das Fleisch ist weich und schmerzt nicht. –

Hier diese blutet wie aus dreißig Leibern.
Kein Mensch hat soviel Blut. –
Hier dieser schnitt man
Erst noch ein Kind aus dem verkrebsten Schoß. –

Man läßt sie schlafen. Tag und Nacht. – Den Neuen
sagt man: Hier schläft man sich gesund. – Nur sonntags
für den Besuch läßt man sie etwas wacher. –

Nahrung wird wenig noch verzehrt. Die Rücken
sind wund. Du siehst die Fliegen. Manchmal
wäscht sie die Schwester. Wie man Bänke wäscht. –

[ … ]

Saft schickt sich an zu rinnen. Erde ruft. –

Das ist nur schwer zu ertragen. Benn hat diese kaum aushaltbare Spannung als „suspendierten Tod“ bezeichnet, „hart an den verschiedensten Abgründen“. Dieser „aufgeschobene“ Tod war für ihn nicht nur eine der Gewissheiten seiner pathologisch-anatomischen Ausbildung, die er aus dem Sektionskurs am Klinikum Moabit mitnahm. Für Benn war dies zugleich eine sehr schmerzhafte persönliche Erfahrung. Im Winterhalbjahr 1911/12 – beim Schreiben der Gedichte – begleitete ihn das Dahinsiechen seiner erst 54 Jahre alten krebskranken Mutter. Am 24. Februar 1912 absolvierte er erfolgreich die medizinische Prüfungskommission. Ende März trat er seinen ersten Dienst als Militärarzt in Prenzlau an, knapp 100 Kilometer nördlich von Berlin in der Uckermark gelegen. Seine Mutter starb nur wenige Wochen nach Erscheinen von „Morgue“.

Sie starb den schwersten Tod, den ich gesehen habe.

Aus den Gedichten des „Morgue“-Zyklus spricht eine tiefe Sinn- und Existenzkrise, in die der junge angehende Mediziner geraten war.

Der Stuttgarter Klett-Cotta Verlag, dem die Rechte an Benns Werken heute gehören, hat zum 100. Jahrestag von „Morgue“ eine überraschende Neuausgabe vorgelegt: den zwölf expressionistischen Gedichten sind zwölf expressive, gegenständliche Zeichnungen von Georg Baselitz gegenübergestellt.

Auch Baselitz – heute ist er einer der größten Künstler der Gegenwart –
hatte seine Karriere mit einer Provokation begonnen.

Seine erste Einzelausstellung in der Westberliner Galerie Werner & Katz endete im Oktober 1963 mit einem Skandal. Besonderen Anstoß erregten die Arbeiten aus der Phase seines „Pandämonischen Manifests“: Werke wie „Die große Nacht im Eimer“, das einen onanierenden Jungen zeigt, und „Der nackte Mann“ beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft wegen „Unsittlichkeit“. Baselitz landete vor Gericht – und in der Presse. Der angestrengte Strafprozess endete zwei Jahre später mit der Rückgabe der Bilder.

Baselitz war im selben Alter wie Benn, als der seinen „Morgue“-Zyklus schrieb – 25. Man weiß nicht, ob er sich vielleicht vom „Morgue“-Zyklus anregen ließ. Benns Gedichte und Baselitz’ Zeichnungen jedenfalls verquicken zwei Künstlerbiografien und erhöhen sie – zu einem Duo infernale.

Natürlich steckte bei beiden – Benn 1912, Baselitz 1963 – auch ein gewisses Kalkül dahinter. Damals wie heute ist ein Skandal immer gut für eine Karriere als Künstler.

Man muss renitent sein und schlimme Sachen tun, so Baselitz. Und gerade diese „schlimmen Sachen“ gelten heute als Meilensteine der Kunst und der Lyrik.

Jun 2017 | Allgemein | Kommentieren

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